von Matthias P.

Anlässlich eines Kurzurlaubs in Brüssel hatten meine Frau Gabi und ich uns vorgenommen, der renommierten und alteingesessen Lambik-Brauerei Cantillon einen Besuch abzustatten. An einem kühlen Oktobermorgen haben wir uns auf den Weg in den bei Fußballfans bekannten Vorort Anderlecht aufgemacht und standen bald vor einem unscheinbar wirkenden Gebäudekomplex.

Hier sind (ohne Voranmeldung) Besucher jederzeit willkommen – und so empfing uns hinter der Eingangstür der alte Brauer-“Patron” Jean Pierre van Roy am Kartenverkauf, beantwortete geduldig erste Fragen und schwärmte auf meine Nachfrage von Michael Jackson, dem “Bier- und Whiskey-Papst”, den er 1977 auf dessen erster Tour durch Belgien kennen lernte.

Nach einer kurzen Wartezeit holte uns eine junge Frau zu unserer “Führung” auf Englisch ab: Man wurde in den ersten Raum (“Brausaal”) geleitet, in dem eine kurze Erläuterung des kompletten Brauvorgangs und der Besonderheiten des Brauens mit “wilden Hefen” gegeben wurde. Anschließend durfte man sich völlig frei durch die weiteren Räume der Brauerei bewegen.

Cantillon ist ein Familienbetrieb, schon über 100 Jahre alt (gegründet im Jahr 1900 von Paul Cantillon) und noch immer vollkommen unabhängig und in Familienhand. Es wird immer noch mit Maschinen gebraut, die aus dem 19. Jahrhundert stammen. Die auch heute noch bestehende Maximalproduktion wurde 1958 mit 2.500 Hektolitern erreicht.

Erst mit der Erfindung der Dampfmaschine im 19. Jahrhundert und der künstlichen Kühlung sowie der Entdeckung und Reproduktion von Hefen entwickelten sich unsere heutigen Biere. Diese neuen Techniken revolutionierten damals die Braukunst: Heutige Brauereien überlassen nichts mehr dem Zufall. Die natürliche Gärung unserer Vorväter ist zugunsten der vom Brauer eingeleiteten und kontrollierten Gärung verschwunden. In unserer Zeit nutzt nur noch eine Bierart weltweit diese mehrere Jahrtausende alte Gärung: das Lambik.

Das Lambik ist typisch für Brüssel (und das Tal der Senne) und war bis Mitte des 19. Jahrhunderts sogar das einzige in der Region produzierte Bier. In den 1950er Jahren gab es in der belgischen Hauptstadt noch etwa ein Dutzend Brauer und Verschneider von Lambik.

Bei der Produktion eines Lambik kommen bei Cantillon pro Brauvorgang folgende Grundstoffe zum Einsatz: 35% Roh-Weizen (450 kg – ungekeimtes Getreide aus der Provinz Brabant), 65% Gersten-Malz (850 kg – zwei bis drei verschiedene Sorten Gerstenmalz) und ca 25 kg Hopfen. Weizen und Gerste werden zunächst in einer Quetsche zerrieben und diesen 1.300 kg im Maischebottich warmes Wasser aus einem Heißwasserspeicher (5.000 l –Edelstahltank) hinzugefügt. Innerhalb von zwei Stunden steigt die Temperatur der Maische von 45 °C auf 70 °C. Anschließend wird heißes Wasser durch die Maische gepumpt und der Zucker aus dem Getreide “ausgewaschen”.

Die Bierwürze (etwa 100 hl) wird in zwei kupferne Kochbottiche im ersten Stock gepumpt. Diese bestehen aus einem Rührwerk und Spiralröhren zum Einführen von Wasserdampf als Heizquelle. Der Treber wird gesammelt und findet als Viehfutter Verwendung.
Vor dem Kochen wird der Bierwürze getrockneter Hopfen hinzugefügt. Dabei handelt es sich um 3 Jahre lang gelagerte Dolden. Der Kochvorgang dauert 3 bis 4 Stunden, etwa 2.500 Liter der Bierwürze verdampfen.
Die nach dem Kochen verbleibende  Flüssigkeit (75 hl) wird durch ein Hopfenbecken (wo der Hopfen gefiltert wird) in ein offenes Kühlschiff (eine große Wanne aus Kupfer) gepumpt. Seine Teile sind alle vernietet, ohne eine einzige Schweißnaht, ein Meisterstück der Schmiedekunst. Der Bottich fasst etwa 7500 Liter, ist von großer Fläche und sehr flach, wodurch die Abkühlung durch den Kontakt mit der (kalten) Luft gefördert wird.
Unter idealen Umständen kühlt die Bierwürze bis auf eine Temperatur von 18 bis 20 °C ab. Diese natürliche Kühlung findet nachts statt. Eine derartige Kühlung ist aber nur in der kalten Jahreszeit möglich, deswegen kann nur zwischen Mitte Oktober und Anfang April gebraut werden.
Die kalte Jahreszeit fördert gleichzeitig die Infizierung der Bierwürze durch eine große Anzahl wilder Hefen, die durch die Luft transportiert werden und in diesem Raum natürlich vorhanden sind. Die in den Kochbottichen sterilisierte Bierwürze wird von wilden Hefen bei einer Temperatur von 40 °C „ angesteckt“. Der Kühlschiff-Raum wird von den Brauern als ein wahres Heiligtum betrachtet, weil er eine einzigartige Kolonie von Mikroorganismen beherbergt.
Forscher der Katholischen Universität Leuven haben die organische Chemie der Fermentierung von Lambiks untersucht und in einem einzigen Lambiktyp bis zu 100 verschiedene Hefestämme, darunter 27 Essigsäure­ und 38 Milchsäure-Bakterienstämme festgestellt. Diese Mikroorganismen bewirken die Spontangärung in Eichen- oder Kastanienholzfässern. Das heißt, der Bierwürze wird keine Hefe hinzugefügt, der Kontakt mit den wilden Hefen genügt.

Am Morgen nach der Infizierung (Kühlung über Nacht) wird die gekühlte Bierwürze in einen Bottich aus rostfreiem Stahl gepumpt und zum letzten Mal Temperatur und Stammwürze kontrolliert. Anschließend wird sie in Fässer aus Eichen- oder Kastanienholz mit einem Inhalt von 225 bis 500 Litern gepumpt. Die Fässer sind benutzte Wein-, seltener auch Cognac-Fässer. Die Inhaltsstoffe des Holzes sind nicht entscheidend für den Lambik-Brauer, das Holz ist aber notwendig, damit ein Gasaustausch zwischen dem Bier und seiner Umgebung stattfinden kann.

Nach einigen Tagen beginnt die Spontangärung. Drei oder vier Tage lang ist die Kohlendioxidproduktion so heftig, dass man das Fass nicht verschließen kann, weil es sonst explodieren würde. Aus der Öffnung auf der Oberseite des Fasses, dem Spundloch, kommt dann ein weißlicher Schaum. Auf diese Weise können 5 bis 10 Liter Bier je Fass verloren gehen.

Drei bis vier Wochen später fängt die langsame Gärung an. Weil nun keine Gefahr mehr besteht, dass das Fass platzt, wird es verschlossen. Die außergewöhnlich komplexe Gärung wird zum Teil noch drei Jahre weiter gehen.
Im derzeit gebrauten Cantillon-Lambik konnten 86 verschiedene Hefen festgestellt werden. Zwei davon, die Brettanomices Bruxellensis und die Brettanomices Lambicus, spielen eine sehr wichtige Rolle. Sie verarbeiten die nicht gärungsfähigen Zuckersorten, die sogenannten Dextrine. Dank dieser Hefen wird das Lambik nach einer dreijährigen Gärung nur noch eine sehr geringe Menge Zucker (0,2%) enthalten.
Im Gegensatz zum Winzer füllt der Lambikbrauer seine Fässer nicht nach, um den Schwund durch Verdunstung auszugleichen. Nach einer dreijährigen Reifung im Fass gibt es einen Verlust von etwa 20%. Das verkäufliche Volumen eines Fasses sinkt von 400 Liter auf 320 Liter. Zum Selbstschutz kleben einige Hefen zusammen und bilden einen Film, die sogenannte „Flora“, die das Lambik völlig von der Luft abschließt.

Lambik kann schon nach einigen Wochen getrunken werden, der Brauer wird aber noch ein Jahr warten (müssen), um ein geschmacklich feineres Bier zu erhalten. Sein saurer Geschmack, seine Aromen und sein Nachgeschmack machen das Lambik zu einem sehr komplexen Produkt, das immer wieder anders ausfällt.

Um G(u)euze herzustellen, mischt der Brauer ein-, zwei- und dreijähriges Lambik. Während das alte Bier sein Bukett und feinen Geschmack einbringt, steuert das junge Bier den Zucker bei, der für die 2. Gärung in der Flasche benötigt wird. Die wichtigste Aufgabe der Cantillon-Brauer ist hier die Probennahme. Aus etwa zehn Fässern wird das Bier probiert. Davon werden 6 oder 8 ausgewählt, mit denen man die echte Cantillon-Geuze herstellen kann.
Der Inhalt der ausgewählten Fässer wird in einen Edelstahltank gepumpt, dabei werden kleine Partikel toter Hefe frei, die das Bier trüben. Diese werden mittels eines Massefilters (fünf mit  Zellstoff gefüllte Filterplatten) herausgefiltert. Das klare Bier wird in zwei Edelstahltanks geleitet, die über einen Schlauch mit der Flaschenabfüllanlage verbunden sind.

Das Bier wird über einen Auffangbehälter aus den Edelstahltanks mit Hilfe einer Abzapfmaschine in (grüne!) Flaschen des Champagner-Typs (37,5 oder 75 cl) gefüllt. In einer Stunde können 1.200 Flaschen abgefüllt werden. Danach werden sie mit einem Korken und einem Kronkorken verschlossen. Der Kronkorken verhindert eine unangenehme Überraschung für die Verbraucher, denn im Sommer könnte der Korken infolge der Wärme herausgedrückt werden. Nach der Abfüllung und Etikettierung werden die Flaschen mittels eines Transportbandes in den Flaschen-Keller (Kapazität: 13.500 Flaschen) transportiert.
Dort werden die Flaschen mehrere Monate waagerecht gelagert und könnten dort nicht nur viele Monate sondern bis zu 25 Jahre aufbewahrt werden.

Der Zucker im jungen Lambik bewirkt eine zweite Gärung. So verwandelt sich die Lambik-Cuvee in den Flaschen ab etwa 6 Monaten zu einer schäumenden Flüssigkeit, dem Geuze. Indem das Bier natürlich „moussiert“, verfeinert sich der Geschmack, wobei der saure Charakter erhalten bleibt. Auch alle anderen Erzeugnisse von Cantillon (Basis ist immer eine Cuvee aus mehreren Lambiks) wie die Fruchtbiere (Zugabe von Kirschen, Himbeeren oder Weintrauben) gären in der Flasche nach. Der Alkoholgehalt der Biere liegt bei etwa 5 vol% bis 6,5vol%.

In den 1960er Jahren und den zwei folgenden Jahrzehnten fand ein Niedergang und die  Schließung zahlreicher Lambik-Brauereien statt, zugunsten von modernen Brauereien, die pasteurisierte und gesüßte „ Pseudo“-Lambiks herstellten. Laut Jean Pierre van Roy verfügt Belgien nicht über die nötigen Gesetze, um seine traditionellen Produkte zu schützen. So lässt sich der Unterschied zwischen „modern“ und „traditionell“ unmöglich vom Etikett ablesen.
Die mit der Craftbier-Bewegung verbundene Renaissance handwerklicher Biere in den USA und Europa hat dem Brüsseler Lambik neues Leben eingehaucht.
Heute überschreitet die Nachfrage nach klassischen Lambiks bei Weitem das, was bei der Größe der Räumlichkeiten bei Cantillon (2.000 m²) gebraut und gelagert werden kann.
Da die Brauerei aber ihr einzigartiges Know-how und die traditionelle Methode bewahren möchten, ist es aus Platzmangel unmöglich, den derzeitigen Bierausstoß zu erhöhen.

Das Brauen von Lambik ist im Vergleich zu anderen Bieren sehr kostspielig (ein im Handel erhältliches Bier von Cantillon ist im Allgemeinen mindestens drei Jahre alt) und in jeder Hinsicht unvergleichilch: Die Brauphilosophie, die Produktionsdauer, der Geschmack – alles unterscheidet sich beim Lambik von der Produktion anderer Biere.

Wenn die herbstlichen Frühnebel sich auf Anderlecht legen – so in etwa 2 bis 3 Wochen, Jean Pierre spürt es schon in der Luft -, dann verwandelt sich dieses außergewöhnliche Museum (musée bruxellois de la gueuze), wieder in eine quicklebendige Produktionsstätte, in der jeden Dienstag und Donnerstag eines der renommiertesten belgischen Biere gebraut wird.

Kategorien: Bierreisen